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Leseproben

Leseprobe 1

 

Bald musste Cuthraid erzählen: Wie es ihm ergangen sei, wo er jetzt lebte, wie er seinen Lebensunterhalt verdiente. Da er wusste, dass die Nordmannen Erzählungen – die sogenannten Sagas – über alles liebten, schmückte er seine Geschichte mehr und mehr aus und er wurde darin ein größerer Held als er in Wirklichkeit war. Die Seekrieger aber lauschten interessiert, bereicherten seine Erzählung immer wieder mit zotigen Zwischenrufen, die Stimmung wurde zunehmend ausgelassener und bald fingen die ersten Krieger an, um ihre Mädchen zu wetten. Der Mjäd floss in Strömen, es wurde lauter und wilder und Thorolf schien sich köstlich zu amüsieren. Er zog Cuthraid zur Seite und raunte ihm ins Ohr.

„Die Sache, wegen der Du gekommen bist, besprechen wir morgen bei Tageslicht. Heute Nacht feiern wir, Anglosaxon!“

 

Dann hieb er ihn ausgelassen auf den Rücken. Thorolfs Freundschaftsbekundung nahm dem Boten aus Northumbria kurz den Atem. Woher wusste der Anführer dieser Nordmannen-Sippe, dass Cuthraid nicht aus freien Stücken, sondern wegen „einer Sache“ gekommen war? Nun, die Antwort würde er wahrscheinlich erst am nächsten Tag bekommen. Zwischendurch stand der Jarl auf, stellte sich auf einen Stuhl und hob die Hände. Die Männer verstummten nach und nach. Als endlich völlige Stille eingekehrt war, hielt Thorolf Graubart eine kurze Ansprache, in der er Cuthraid willkommen hieß – zum vierten Mal, seit das Gelage begonnen hatte. Außerdem verlieh er einmal mehr seiner Hoffnung Ausdruck, dass der Angelsachse nun für immer in Logstaad bleiben würde. Dann nahm sein Gesicht jenen verschlagenen Ausdruck an, den Cuthraid nur allzu gut kannte. Der Jarl entwickelte irgendeinen verwerflichen Plan, er hatte eine diebische Freude daran, anderen Menschen derbe Streiche zu spielen. Cuthraid war fortan auf der Hut. Thorolf wandte sich nun direkt an ihn.

„Sag, Gaddraed, bei Deiner Saga über Dein Leben vorhin erwähntest Du nichts von einem Eheweib und Kindern!?“

Cuthraid räusperte sich.

 

„Nun, Jarl Thorolf, bisher hat die Richtige noch nicht meinen Weg gekreuzt…“

Der mächtige Nordmann schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.

„Aber wenn ich mich recht erinnere, bevorzugst Du bei Körperspielen schon Frauen, oder?“

Grölendes Gelächter erfüllte den Raum. Wenn Cuthraid nur wüsste, worauf der Jarl hinauswollte. So aber blieb ihm nichts weiter übrig, als dessen Spiel mitzuspielen.

„Ihr erinnert Euch recht, Herr, den Weibern gab ich den Vorzug im Bett, mit den Knaben spielte ich lieber auf dem Schlachtfeld.“

Wieder johlten einige der Festgäste auf. Aus der Gruppe der feiernden Krieger erhob sich ausgerechnet Karli Guddfrehn. Er hob sein Trinkhorn und grölte in die Menge.

 

„Hört, hört: Ein Anglosaxon, der sich auskennt!“

Dieser Kommentar hatte noch mehr Lachen und Johlen zur Folge. Erneut erhob Thorolf die Hände. Wieder kehrte Ruhe in der Halle ein.

„So lasst uns unseren Freund und seine Ankunft gebührend feiern!“

~

Nach dem Essen wurde die Stimmung immer ausgelassener, bald liefen die Sklavenmädchen zwischen den Männern herum, schenkten Mjäd nach und wandten sich mal dem einen und mal dem anderen Krieger zu, wobei sich die Nordmannen nicht darum scherten, dass all ihre kleinen Anzüglichkeiten und Berührungen vor aller Augen geschahen – man war es so gewohnt und es verstieß keineswegs gegen irgendwelche Moralvorstellungen. Der Jarl fand sich selbst bald umgeben von einer drallen Blondine, die sich ihm immer wieder auf unkeusche Weise näherte und einige Male von ihm ungeduldig zurückgewiesen wurde, einer kleinen, gar nicht mehr so jungen Schwarzhaarigen, die ganz offensichtlich von einem Beutezug ins südliche Europa stammte und einem hochgewachsenen, stolzen Mädchen, dessen Haar eher ins Rötliche spielte. Diese junge Frau schien noch nicht lange bei den Nordmannen zu leben, denn auf ihren edlen Gesichtszügen war eine zunehmende Abneigung gegen die derben und allzu offen vollzogenen Lustbarkeiten zu erkennen, denen mehr und mehr nachgegangen wurde. Sie schien frei von Furcht vor dem Kommenden zu sein und ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie sich niemandem als Spielmädchen hingeben würde. Auch in ihrer Haltung spiegelten sich Ablehnung und Stolz wider: Cuthraid konnte bald kaum den Blick von ihr lassen – sie schien etwas Besonderes zu sein.

 

Ihre Haare waren keinesfalls flammend rot, sondern erinnerten eher an die satte, dunkle Farbe der Kastanienfrucht, sie waren lang und kräftig und flossen ihr in leichten Wellen über die Schulter. Ihre Haut spielte in einen feinen Olivton hinein, war aber dennoch zu hell für eine reinrassige Römerin – die feinen Linien ihres Gesichtes deuteten allerdings unverkennbar auf eine edle Abstammung hin. Sie hatte lange, schmale Gliedmaßen, auch ihre Hände waren zart, ihre Finger kamen einem beinahe zierlich vor: Alles, was von ihrem Körper unter der einfachen Kleidung zu erkennen war, verstärkte den grazilen und edlen Eindruck ihrer gesamten Erscheinung. Sie wirkte nicht wie eine Sklavin, sondern eher wie eine Herrscherin – ihr gesamtes Auftreten ließ vermuten, dass sie es nicht gewohnt war zu dienen. Und in ihrem Gesicht war eindeutig zu lesen, was sie für die Anwesenden in dieser Halle empfand.

 

Cuthraid ahnte, dass er hier eine Tochter aus hohem Hause vor sich hatte: Mit großer Wahrscheinlichkeit stammte sie aus den nordwestlichen Regionen der steinernen Insel, die unter der Kontrolle der Nachfahren von Kelten und Römern – den Britanniern – stand. Er vermutete, eine Adlige aus Strathclyde vor sich zu haben oder sogar eine Angehörige einer skotischen Herrschersippe aus Dalriada, in deren Erblinie sich bestimmt auch die eine oder andere römische Patrizierfamilie nachweisen ließe, wenn es nur entsprechende Unterlagen gäbe. Doch die Römer hatten bei ihrem Abzug aus Britannien vor etwa vier Jahrhunderten nichts als ihr Blut und Teile ihrer Kultur hinterlassen, so dass es den meisten Britanniern unmöglich war, Ansprüche aus einer vermeintlichen hohen Abstammung geltend zu machen.

Cuthraid war zu beeindruckt von dieser Frau um zu bemerken, wie sich Thorolfs Aufmerksamkeit mehr und mehr auf seine entsprechenden Blicke konzentrierte. Der Jarl kniff mehr als einmal missbilligend die Augen zusammen, denn wann immer er Cuthraid beobachtete, starrte dieser die rothaarige Sklavin an, die ihm, dem Herrn von Logstaad, bisher so viel Ärger und Verdruss bereitet hatte. Und mit zunehmendem Mjäd-Genuss reifte ein Plan in Thorolf heran. Cuthraid von Dunwich dagegen konnte seinen Blick nicht mehr von dem edlen Geschöpf abwenden und wurde unaufmerksam. Seine Mission näherte sich unerwartet und ohne, dass er es bemerkte, einer Krise.

 

Die rothaarige Frau dagegen hatte die Blicke des fremden Kriegers viel früher als der Jarl bemerkt. Sie gewahrte schnell, dass Cuthraid sie unentwegt anstarrte und kaum noch auf die Feierlichkeiten ringsherum achtete. Ohne, dass es Cuthraid auffallen konnte begann sie, sich ihm so gut es ging zu präsentieren: Sie straffte ihren Oberkörper, wendete sich so, dass er vor allem ihr Profil zu sehen bekam und bewegte sich mit aller Anmut, die ihre Lage zuließ. Sie hatte keine Ahnung, wer er war und ob er ihr nützlich sein konnte, doch offensichtlich war seine Ankunft immerhin der Grund für dieses abscheuliche Gelage. Es bestand also die geringe Möglichkeit, dass dieser hochgewachsene Fremde einen gewissen Einfluss auf den verhassten Jarl hatte. Einige Male wurde sie von Thorolf mit derben Stößen und Tritten dazu genötigt, ihm Mjäd nachzuschenken und schnell hatte sie begriffen, dass der Jarl Cuthraids Interesse an ihr missbilligte. Dennoch fuhr sie damit fort, dem angelsächsischen Krieger ihre beste Seite zu zeigen. Wenn sich der Abend ungestört so weiter entwickelt hätte, wäre nicht ausgeschlossen gewesen, dass Cuthraid von Dunwich neben seinem eigentlichen Auftrag ein Geschäft in eigener Sache gemacht und dem Jarl das Mädchen abgekauft hätte.

Doch im Tumult der Feierlichkeiten und der zunehmenden Freizügigkeit unter den Nordmannen fiel Thorolfs wachsender Ärger kaum jemandem auf. Daher waren sowohl Cuthraid als auch die rothaarige Sklavin entsetzt, als der Jarl sie plötzlich an der Kehle packte und vor die große Tafel zerrte. Sofort erstarb jedes Gelächter und Stimmengewirr. Nach wenigen Augenblicken galt die gesamte Aufmerksamkeit der Nordmannen nur noch Thorolfs Auftritt. Der Jarl drückte inzwischen die Kehle der Sklavin so fest zu, dass diese kurz aufkeuchte und dann in den Knien einknickte. Daraufhin packte er die junge Frau, hob sie an und presste sie mit einer leicht wirkenden, aber brutalen Bewegung rücklings auf die Tischplatte. In ihrer Verzweiflung warf sie ihre langen, sehnigen Beine hoch, dabei rutschte ihr Kleid nach oben und ein anerkennendes Murmeln wurde laut. Ihre Arme ruderten kurz, dann versuchte sie, die Hand zu packen, die sie hielt, aber gegen den harten Griff des bärenstarken Nordmannes war jeder Versuch, sich aus eigener Kraft zu befreien von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Raunen wurde lauter, hier und da mischte sich ein leises Gelächter in die Kulisse, denn die meisten Nordmannen erwarteten nun eine frivole Vorstellung. Doch das Zappeln der Sklavin wurde zunehmend schwächer. Thorolfs Gesicht verwandelte sich in eine wutverzerrte Grimasse. Cuthraid atmete tief durch und trat einen Schritt vor. Doch bevor er etwas sagen konnte, bellte Thorolf ihn an.

„Gefällt Dir das Mädchen etwa, Gaddraed?“

Er unterstützte jedes seiner Worte, indem er den Kopf der rothaarigen Sklavin dazu kräftig auf den Tisch schlug. Cuthraid hob abwehrend die Hand und machte einen weiteren Schritt auf Thorolf zu.

„Jarl, bitte…“

Der Nordmann lachte dröhnend.

 

„Mir ist sie zu mager und zu widerspenstig. Sie ist jetzt schon seit Wochen hier, aber noch immer ziert sie sich und niemand hatte seinen Spaß mit ihr. Willst Du sie vielleicht haben?“

Cuthraid musterte das Mädchen. Ihre Bewegungen wurden schwächer, sie würde nicht mehr lange bei Bewusstsein bleiben. Er beeilte sich.

„Was soll sie kosten?“

Thorolf ließ erneut sein polterndes Lachen hören, ohne jedoch das Mädchen frei zu geben. Inzwischen waren ihre Bewegungen fahrig und unkoordiniert geworden und sie verdrehte die Augen. Ein missbilligendes Raunen ging durch die Menge, obwohl sich ihr leichtes Leinenkleid inzwischen weit über ihre Schenkel hochgeschoben hatte und den Blick auf durchaus inspirierende Bereiche ihrer Anatomie erlaubte. Thorolf reagierte auf den Unwillen seiner Männer, indem er den Hals des Mädchens abrupt losließ. Ihr Kopf schlug hart auf die Tischplatte. Mit den ersten Atemzügen begann sie jämmerlich zu husten. Erst nach einigen Augenblicken gewahrte sie ihre Blöße und begann, sich das Kleid wieder über ihre Scham zu ziehen, doch jedermann hatte sich inzwischen davon überzeugen können, dass sie eine echte Rothaarige war. Thorolf trat an Cuthraid heran und legte ihm beide Hände auf die Schulter. Er fixierte ihn, kniff die Augen zusammen und seine Stimme senkte sich.

„So ist er, mein Gaddraed. Er ist unter Händlern aufgewachsen und kennt deren Gebräuche. Doch zahl nicht für sie, sondern lass uns eine Wette machen, das ist spannender. Wir verbinden Dir die Augen, dann küsst Du drei Mädchen, eine davon wird sie sein. Wenn Du sie am Kuss erkennst, gehört sie Dir!“

 

Er hatte Norrøn benutzt, die Diplomatensprache, die sowohl viele Nordmannen als auch die gebildeten Angelsachsen und Britannier verstanden. Und er hatte so laut gesprochen, dass die Rothaarige ihn gehört haben musste, auch wenn sie immer noch kaum bei Bewusstsein war. Sie richtete sich auf und musterte die beiden Männer. Ihr Blick wurde zu Stein. Cuthraid wollte etwas erwidern, aber Thorolf wandte sich ab und gab vier seiner Männer Anweisungen. Zwei von Ihnen suchten sich aufs Geratewohl je eine Sklavin aus der Menge der Feiernden aus und der Dritte machte sich daran, Cuthraid die Augen zu verbinden. Dieser sah gerade noch, wie ein weiterer Nordmann die Rothaarige ergriff. Eine Weile lang tat sich nichts, dann ertönte Thorolfs dröhnende Stimme erneut durch die Halle.

„Eine Wette hat immer zwei Seiten! Wenn Gaddraed gewinnt und sie erkennt, dann soll er sie geschenkt bekommen. Wenn er verliert, hat sie ihr Leben verwirkt und ihr wird hier und jetzt die Kehle durchgeschnitten. Vor aller Augen!“

Das Gejohle brandete wieder auf und Cuthraid wurde übel. Jetzt würde er – ob er wollte oder nicht – über Leben und Tod dieses Mädchens entscheiden. Jetzt lag das Schicksal dieses außergewöhnlichen, auffälligen und besonderen Wesens in seiner Hand. Ihm wäre es nicht um ihren Besitz gegangen, er hatte sie lediglich aus der Sklaverei retten wollen – ihm war nicht einmal klar, aus welchem Grund. Doch jetzt war er gezwungen zu gewinnen, allein um nicht Schuld an ihrem Tod zu sein. Und ihm wurde bewusst, dass Thorolf die Rothaarige abgrundtief hasste und alles unternehmen würde, um sie sterben zu sehen. Cuthraid sah den Erfolg seiner Mission in weite Ferne rücken. Und damit auch sein eigenes Überleben. Wie hatte es nur soweit kommen können?

Leseprobe 2

~

Alles hatte zehn Tage zuvor auf der Burg des Sheriffs von Bernica begonnen: Am Nachmittag des 12. Juli 810 waren sechs Reiter unter dem Banner des Hochkönigs über die Zugbrücke von Bernica Castle gedonnert. Man hatte die Brücke bereits heruntergelassen, als die Reiter am anderen Ende des Tales aufgetaucht waren. Es hatte nicht lange gedauert, bis ihre Wappen identifiziert waren – und der Sitte nach wurde hochköniglicher Besuch in allen Ehren empfangen.

Ceidric, der Sheriff von Bernica Shire und Herr dieser Burg war schlau genug, sich dem Hochkönig und seinen Abgesandten gegenüber immer so zu benehmen, dass kein Zweifel an seiner Loyalität aufkommen konnte. Immerhin galt er bei Hofe als „unsicher“: Sein Vater, Ethelred von Bernica, früher Earldorman und enger Vertrauter von Cumbrae, hatte sich einst gegen seinen Herrn gewandt – er war der Meinung gewesen, dass der Nachfolger eines Königs von freien Edelleuten gewählt werden sollte, wie es schon immer Brauch gewesen war. Er hatte deshalb die Revolte gegen den Hochkönig unterstützt.

Anfangs hatte es gut für die Aufständischen ausgesehen: Sie hatten Cumbrae bald aus seinem Regierungssitz in Eoforwic vertrieben. Aber danach war nicht mehr viel geschehen, zudem konnte sich die Gruppe der Königsgegner nicht auf einen Nachfolger einigen. Viele waren daraufhin in ihre eigenen Burgen zurückgekehrt. Ceidrics Vater hatte zu ihnen gehört. Bernica war einst ein eigenständiges Königreich gewesen, bevor Cumbraes Großvater es an Northumbria angeschlossen hatte.

Einige ruhige und friedliche Jahre vergingen, bis endlich, im Jahre 779 Ceidric das Licht der Welt erblickte. Leider überlebte seine Mutter die Geburt nicht, doch für Ethelred war sein Sohn das schönste Geschenk, das er sich denken konnte. Er verbrachte viel Zeit mit dem Jungen und erzog ihn schon früh dazu, seine Ehre höher als seinen Stand oder seine Besitztümer zu schätzen. Am elftem Geburtstag seines Sohnes erreichte Ethelred ein Friedensangebot von Cumbrae: Sein ehemaliger Hochkönig wollte sich mit ihm treffen, um die Meinungsverschiedenheiten aus der Welt zu räumen. Inzwischen war die Revolte beendet, die meisten Earldormen waren tot oder hatten sich wieder zum König bekannt.

 

Entgegen der Empfehlung seines Beraters Ceolred von Glastonbury, der seit zwei Jahren auf Bernica Castle weilte, machte sich Ethelred auf den Weg. Er war beflügelt von der Aussicht, endlich offiziell Frieden schließen zu können. Doch unterwegs gab es einen Unfall: Es wurden verdorbene Speisen serviert und der halbe Tross starb innerhalb weniger Stunden. Ceidrics Vater gehörte zu den Opfern – er hatte keine Möglichkeit mehr gehabt, sich mit seinem Hochkönig auszusöhnen.

Cumbrae allerdings erschien wenige Tage später in Begleitung nicht weniger Krieger vor Bernica Castle, verlangte den Zutritt zur Burg und verhandelte lange und intensiv mit Ceolred. Endlich gelangte er zu der Ansicht, dass ihm von Ceidric keine Gefahr drohte, da der Junge die politischen Ansichten seines Vaters nicht teilte, wie ihm der alte Berater unter Eid versicherte. Ceidric wurde am Leben gelassen, Ceolred zu seinem Vormund bestellt und die Verwaltung des Shires übernahm ein Günstling des Königs.

Als Ceidric fast fünfzehn war, überfielen die Seekrieger aus dem Norden das Kloster Lindisfarne und brachten Aufruhr und Schrecken über das Land. Ceidric sprach auf Anraten Ceolreds beim Hochkönig vor und forderte für sich den Titel und die Macht eines Earldorman von Bernica. Im Gegenzug versprach er Cumbrae, die Ostküste von Nordmannen frei zu halten. Cumbrae ging auf das Angebot ein, doch verlieh er Ceidric zunächst nur die Würde eines Reeve – gleichwohl für ein Gebiet, das so groß wie ein ganzes Königreich war: Den Bernica-Shire.

Von nun an arbeitete der junge Sheriff verbissen daran, sein Versprechen wahr zu machen, um eines Tages in den Stand eines Adligen, eines Earldorman erhoben zu werden, wie sein Vater einer gewesen war. Unter der stetigen Anleitung seines alten Beraters erlebte er Triumphe und Rückschläge, doch mit der Zeit wurde er ein fähiger Stratege, ein mutiger Kämpfer und ein starker Anführer. Allerdings befehligte er mittlerweile auch das größte stehende Heer auf der britannischen Insel – ein Umstand, der beim Hochkönig nicht nur Vertrauen auslöste. Daher benahm sich Ceidric immer so, dass niemand Zweifel an seiner Loyalität hegen konnte.

Folglich war die Zugbrücke herabgelassen, das Burgtor geöffnet und eine Ehrengarde stand zur Begrüßung bereit. Im Burghof angekommen, kümmerten sich sofort alle verfügbaren Stallburschen um die Pferde. Sechs Mägde reichten den Ankömmlingen Wein und kaltes Fleisch. Die Gesandten – fünf von ihnen geadelte Reiter der königlichen Garde und ein Earldorman, der hoch in der Gunst Cumbraes stand – wischten sich mit den ebenfalls gereichten feuchten Tüchern den Staub aus den Gesichtern und taten sich an den Willkommensgaben gütlich.

Endlich gab der Anführer der Gruppe ein Zeichen und sie ließen sich in ihre Gemächer führen. Ceidric trat von dem Burgfried zurück in das Turmzimmer, wo ihn Ceolred erwartete.

 

Der Berater war inzwischen alt geworden, sehr alt. Sein zerfurchtes Gesicht war umrahmt von langen, schneeweißen Haaren. Er stand zwar aufrecht und sein Körper war straff, doch in seinen Augen und vor allem auf der Haut seiner Hände war die Anzahl der Jahrzehnte zu erkennen, die er hinter sich gebracht hatte. Ceidric wusste nicht genau, wie alt Ceolred war, doch er hätte sich nicht gewundert, wenn sein greiser Berater über Hundert gewesen wäre. Die tiefbraunen Altersflecken zierten jede sichtbare Hautpartie, das Gesicht war voller Runzeln und Falten. Allein seine Stirn schien sich ein wenig Jugend erhalten zu haben und war noch glatt und eben. An seinem Haaransatz – der für sein Alter außergewöhnlich tief lag – prangte eine blasse Tätowierung, die einen Halbmond und einige Sterne darstellte.

 

Der alte Mann sei früher ein Priester der alten Religion gewesen, hieß es. Doch solange sich Ceidric erinnern konnte, hatte Ceolred nie etwas gegen den Einen Gott oder die neue Kirche gesagt, im Gegenteil: Er hatte den jungen Sheriff oft genug an die Tugenden von Vergebung und Mildtätigkeit erinnert. So galt der alte Berater im gesamten Shire als ein Faktor, der einen gesunden Einfluss auf den in seiner Jugend oft aufbrausenden Ceidric genommen und damit für Gerechtigkeit gesorgt hatte. Inzwischen war aber auch der Sheriff von Bernica erwachsen und deutlich besonnener geworden. Vielleicht hätte er Ceolred inzwischen nicht mehr gebraucht, doch der Berater schien von geradezu biblischer Vitalität zu sein – trotz seines hohen Alters nahm er mit Körper und Geist weiterhin aktiv an der Gestaltung des Lebens teil: Er erteilte seinem Herrn immer noch im rechten Augenblick die richtigen Ratschläge und bisweilen vergnügte er sich auf Festen ganz wie die Jungen. Eben stand er lächelnd am Fenster und schüttelte den Kopf. In seinen Augen glänzte die Erinnerung an eine Zeit, in der er selbst einen solchen Auftritt genossen hätte. Ceidric trat zu ihm.

„Es ist der junge Sygebryht von Sancton, der die Gruppe anführt. Sie sind scharf geritten, die Gäule dampfen und sie hatten guten Hunger und Durst. Was mag so wichtig sein, dass der alte Narr sie so zur Eile treibt, mein lieber Ceolred?“

Der Angesprochene neigte seinen Kopf zur Seite und grinste.

 

„Cumbrae braucht Eure Loyalität, Herr, so wie ihr die Seine braucht. Das wird der Grund sein.“

Ceidric winkte unwillig ab.

„Sprecht nicht immer in Rätseln, alter Mann, sondern sagt, was Ihr meint.“

Der Alte zuckte mit den Schultern und lachte leise.

„Wenn ich unser aller hoch gelobten König richtig einschätze, wird er ein besonders eindrucksvolles Zeichen seiner Wertschätzung schicken. Fünf Mann seiner Garde, geführt vom jungen Helden Sygebryht von Sancton – solch eine Abordnung kommt nicht auf einen Höflichkeitsbesuch. Mich sollte es nicht wundern, wenn Euch nun endlich der Titel eines Earldorman verliehen wird, Mylord.“

 

Nun war es an Ceidric, aufzulachen.

„Wenn das eintrifft, alter Mann, dann sind wir ein gutes Stück des Weges vorangekommen.“

Sein Berater hob mahnend die Hand. Im gleichen Augenblick verfinsterte sich sein Antlitz.

„Und Cumbrae wäre nicht Cumbrae, wenn er damit nicht auch eigennützige Hintergedanken verfolgen würde…“

Ceidric atmete geräuschvoll aus.

„Nun, Master Ceolred, dann sag mir gefälligst auch, was ich befürchten muss. Immerhin bist Du mein Berater…“

Bevor er zu Ende sprechen konnte, winkte der Alte ab.

„Lasst uns zunächst hören, welche Kunde der junge Sygebryht bringt, Mylord. Uns nützt es nichts, unsere Zeit mit Mutmaßungen zu verschwenden. Erst müssen wir den Schachzug sehen, um die Falle darin entdecken zu können.“

 

Er nahm sich ein Lederband, dann ergriff er mit der anderen Hand seinen dicken, weißen Haarschopf, formte einen Pferdeschwanz daraus und wickelte das Lederband bedächtig darum. Er legte sorgsam Schlaufe um Schlaufe nebeneinander, flocht ein Teil des Bandes durch die entstehenden Ringe und verknotete zum Schluss beide Enden kunstvoll miteinander. Es war wie ein Ritual: Offensichtlich gab es keine Eile im Leben dieses Mannes. Und er wirkte wie jemand, der sich auf einen harten Kampf vorbereitet, indem er sich zunächst an seine Tugenden erinnert. Ceidric lächelte in sich hinein. Sein alter Berater war Gold wert. Einmal mehr dankte er dem Schicksal, welches ihre beiden Wege zusammengeführt hatte.

~

Der Kamin in der Burghalle brannte hell und knisternd und gab dem Raum ein wenig Licht und Wärme. Fast hätte man es für gemütlich halten können, wäre da nicht eine gewisse Anspannung zu spüren gewesen. Ceidric saß an der Stirnseite der großen Tafel, die Diener und Mägde hatten bereits aufgetischt, es standen Becher und Essbretter für die Gäste bereit. Seine derzeitige Favoritin – die junge Witwe eines seiner Grundbesitzer, Lady Ellyn Off-The-Shores – hatte an seiner rechten Seite, der alte Ceolred zu seiner Linken Platz genommen. Am gegenüberliegenden Ende der Tafel stimmten drei Musiker ihre Instrumente. Eine Ehrengarde, bestehend aus sechs Mann, hatte neben dem Zeremonienmeister Aufstellung genommen. Im Hintergrund standen die Mundschenke und Tänzerinnen bereit. Ceidric war sichtlich ungeduldig, er trommelte bereits seit einer Weile mit den Fingern auf die schwere Eichenplatte des Tisches. Endlich stampfte der Zeremonienmeister mit dem Stab dreimal auf den steinernen Boden und kündigte mit volltönender Stimme den ersten Besucher an.

 

„Mylord Sygebryht von Sancton, Earldorman seiner Majestät, des Hochkönigs Cumbrae von Northumbria, Träger des Schlüssels der königlichen Gemächer und Verteidiger des Reiches.“

Der Genannte trat gemessenen Schrittes durch den schweren Vorhang. Er hatte die Zwanzig noch nicht weit überschritten, und doch spiegelte sein Gesicht bereits eine sichtbare Lebenserfahrung und Reife wider. Die hohen Wangenknochen ließen ihn auf den ersten Blick energisch und resolut wirken, doch seine dunkelbraunen, beinahe sanften Augen schwächten diesen Eindruck wieder ab. Eine ungezähmte blonde Mähne verdeckte seine herben Züge fast zur Hälfte, man konnte ihm ansehen, dass er sich kaum Zeit mit dem Herrichten seines Äußeren genommen hatte, zudem wucherte in seinem jungen Gesicht ein dichter, aber beinahe hellblonder Bart. Ceidric wusste, dass dieser mehr als zehn Jahre jüngere Adlige gemeinhin als Rüpel bekannt war und dennoch das höchste Ansehen bei ihrem gemeinsamen Hochkönig sowie den Respekt der anderen Earldormen und Sheriffs von Northumbria genoss.

 

Das lag nicht zuletzt daran, dass Sygebryht einer der besten Kämpfer des Reiches war und in den letzten drei Jahren sieben Duelle auf Leben und Tod für sich entschieden hatte. Inzwischen traute sich niemand mehr, den jungen Heißsporn herauszufordern. Entsprechend benahm sich Sygebryht, egal, wo und zu welchem Anlass er auftrat. Ceidric konnte zwar Angeber und Höflinge grundsätzlich nicht leiden, doch der junge Earldorman von Sancton war ihm sympathisch – und das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen.

Sygebryht grüßte Ceidric mit einem versöhnlichen Wink.

„Sheriff von Bernica, ich danke Euch für die uns entgegengebrachten Ehren.“

Dann überging er Lady Ellyn – wie es aussah, vorsätzlich – um als nächstes dem alten Berater einen Gruß zu entbieten.

„Ah, und Master Ceolred! Wie schwer wäre es, sich diesen Hof ohne Euch vorzustellen!“

Ceidric entging nicht die beinahe beleidigende Missachtung seiner Favoritin, beschloss aber, dies vorerst nicht zum Thema zu machen. Wie üblich fehlte es Sygebryht einfach an gutem Benehmen. Der Zeremonienmeister klopfte erneut mit seinem Stab auf den Boden. Nacheinander kamen die fünf Begleiter des Earldorman herein, jeder mit einem langen Namen und vielen Titeln, sie begrüßten den Burgherrn, die Lady und Ceolred und nahmen an der reich gedeckten Tafel Platz. Zunächst wurde gespeist. Die Musikanten untermalten das Essen mit unaufdringlicher Musik, die Tänzerinnen bewegten sich noch spärlich und züchtig, man tauschte Höflichkeiten und unwichtigen Klatsch aus. Ganz im Gegensatz zu ihrem scharfen Ritt schienen die Boten des Königs jetzt alle Zeit der Welt zu haben. Irgendwann hielt es Ceidric jedoch nicht mehr aus.

„Sagt, Sancton, Ihr habt doch gewiss nicht beinahe eure Rösser zuschanden geritten, um ein nettes Nachtmahl mit mir und meinem Hof einzunehmen!?“

Der Angesprochene nickte mit vollem Mund und winkte ab.

„Gleich, Bernica, gleich!“

Er kaute, schluckte, spülte mit einem deftigen Schluck des schweren, roten Weins nach und wischte sich ganz nach den gebräuchlichen Sitten Mund und Bart rechts und links mit den Handrücken ab, nur um seine Hände gleich darauf an der aufwändig gearbeiteten Tunika von dem fettigen Glanz zu befreien, den sie bei der Säuberung des Gesichtes angenommen hatten. Er stand mit feierlichem Blick auf, schlug mit der Faust dreimal kurz und laut auf die Tafel und bedeutete seinen Begleitern, sich ebenfalls zu erheben. Die Musiker waren aufmerksam genug, augenblicklich von ihrem Spiel abzulassen. Auch die spärlich bekleideten Tänzerinnen verließen den Platz vor der Tafel und zogen sich ins Halbdunkel auf der gegenüberliegenden Seite des Kamins zurück. Sygebryht entrollte derweil mit umständlichen Gesten ein Pergament, welches das königliche Siegel trug. Er räusperte sich und hub mit lauter, würdevoller Stimme an, den Inhalt der Nachricht zu verlesen.

„Im Jahre anno Domini 810, am neunundzwanzigsten Tage des Juni, unter ehrbaren Zeugen verbrieft, am Hofe zu Deira Castle niedergeschrieben auf Geheiß seiner Hoheit und Heiligkeit, unseres Hochkönigs von Northumbria, Imperus Rex Cumbrae aus dem Stamm Dumnonia, Träger der Schlüssel, Beschützer der Gestade und Vertreter des Pontius Maximus in seinem Herrschaftsbereich, wird folgendes bekanntgegeben und somit Gesetz werden:“

Hier wäre Sygebryht nicht Sygebryht gewesen, wenn er nicht eine kunstvolle Pause gemacht hätte. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, wobei seine Augen unerwartet amüsiert blitzten, vor allem, als er Ceidric betrachtete: Dieser atmete tief ein und schien immer ungeduldiger zu werden. So langte Sygebryht erst einmal nach seinem Becher und nahm einen tiefen Schluck von dem unverdünnten Rotwein. Nach der darauf folgenden, unvermeidlichen Reinigung seines hellblonden Bartes fuhr er endlich fort.

„…also, bekanntgegeben und Gesetz werden:“

Noch einmal unterbrach er sich und grinste Ceidric an. Seine volltönende Stimme hatte plötzlich einen leicht spöttischen Unterton.

„Der hier anwesende Sheriff Ceidric von Bernica, Adliger bei Hofe, Beschützer der Gestade, treuer Untertan des Vorgenannten, soll von dem heutigen Tage an für ein ganzes Jahr und einen Tag lang in Verlobung sein mit der Lady Ellwydd, die die einzige legitime Tochter des Vorgenannten ist. Alsdann wird der Vorgenannte ein fünftägiges Fest am Hofe zu Deira ausrichten, zu Ehren der Vermählung der Lady Ellwydds mit dem hier anwesenden Sheriff Ceidric von Bernica. Alsdann wird jener in den Stand eines Earldorman erhoben, mit allen Rechten und Pflichten auf die Thronfolge wie an Sohnes statt.“

Die disziplinierten Hoch-Rufe der Begleiter von Sygebryht übertönten glücklicherweise das überraschte Stöhnen von Ceolred, der Alte schien sichtlich aus der Fassung geraten zu sein. Ceidric dagegen bewegten nur zwei spontane Gedanken: Was würde Lady Ellyn von dieser Offerte halten? Und was hatte der alte Fuchs Cumbrae da wieder für eine Teufelei vor?

Wenn man die niedergeschriebenen Worte genau nahm, befand sich Ceidric nun im Zustand der Verlobung mit der Königstochter, die gerade mal dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein musste und sich derzeit in Ausbildung im Kloster Lindisfarne befand. Wenn er, Ceidric, ordnungsgemäß die Ehe mit ihr, Ellwydd, eingehen würde, versprach ihm Cumbrae nicht weniger als die offizielle Erbfolge und den Königsthron von Northumbria. Während Ceidric die Sache mit der Heirat gut glauben konnte und er auch die möglichen Beweggründe des Hochkönigs nachvollziehen konnte, fiel es ihm aber mehr als schwer, auch nur für möglich zu halten, dass Cumbrae ernsthaft bereit war, die Thronfolge aus den Händen zu geben.

Jeder im Reich wusste, dass der nächste in der Erblinie, der ein Anrecht auf Cumbraes Thron gehabt hätte, der Sohn seines Bruders Oslac, der nun neunzehnjährige Beorthric war. Cumbrae hatte es versäumt, in den Zeiten seiner Manneskraft einen legitimen männlichen Erben zu zeugen. Das Recht, das für einen Sohn selbstverständlich gewesen wäre, galt für weibliche Nachkommen nicht – es sei denn, sie wurden mit jemanden von Stand verheiratet, den der Hochkönig dann an Sohnes statt annahm – wie in diesem Fall angeboten.

 

Würden aber Oslac und Beorthric davon erfahren, konnte es gut zum offenen Krieg um die Thronfolge kommen. Allerdings hätte Cumbrae in diesem Fall natürlich Ceidric und dessen Reiterei an seiner Seite gehabt – insofern schien das Angebot des Hochkönigs stimmig zu sein und zu dessen Charakter zu passen. Ceidric Gedankengänge wurden von Sygebryhts Stimme unterbrochen.

„Der Vorgenannte sendet nun sechs seiner Edlen mit dieser Botschaft an den Hof des erwähnten Sheriffs Ceidric von Bernica mit der Bitte, ihm dieses Angebot vorzutragen, um alsbald seine verbindliche und endgültige Antwort sowie den daraus fälligen Bluteid spätestens am dritten Tage nach ihrer Ankunft niedergeschrieben und vor Zeugen verbrieft entgegenzunehmen und heim an den Hof zu Deira Castle zu bringen. Der Vorgenannte möchte nicht unerwähnt lassen, dass dem Sheriff Ceidric von Bernica aus einer etwaigen Ablehnung dieses Angebotes keinerlei Nachteile entstehen werden, wenngleich der Vorgenannte schon jetzt seinem persönlichsten Bedauern über einen abschlägigen Bescheid Ausdruck verleihen möchte. Gezeichnet unter Zeugen, Der Hochkönig, mit amtlichem und verbrieftem Siegel, et cetera, et cetera.“

Dann wandte sich Sygebryht mit einem liebenswürdigen Lächeln an Lady Ellyn.

„Also seht mir nach, Mylady, dass ich die Unhöflichkeit beging, Euch keinen Gruß zu entrichten. Nachdem ich als Herold aber wusste, welche Botschaft ich zu überbringen hatte war mir klar, dass die Bekanntmachung der Verlobung Eures Gespielen mit der Tochter des Hochkönigs kaum Euer Wohlgefallen finden dürfte.“

Frech fand der alte Ceolred das Vorgehen des jungen Helden, aber galant. Lady Ellyn erblasste, hüstelte kurz und entfernte sich unter gemurmelten Entschuldigungen. Ceidric erhob sich, unschlüssig, ob er ihr folgen sollte, doch Sygebryht wandte sich mit einem süffisanten Grinsen an den Sheriff.

„Und nun, Bernica, lasst uns die überall im Land gerühmten Tänze Eurer Sklavinnen sehen, während Ihr Euch beratet.“

Daraufhin nahm er erneut einen kräftigen Schluck Rotwein und drehte sich demonstrativ zu den Tänzerinnen um. Ceidric bedeutete den Musikern, aufzuspielen, den Sklavinnen, sich wieder vor die Tafel zu bewegen und den Mundschenken, mehr Wein zu bringen. Dann atmete er tief durch und verließ ohne ein weiteres Wort die Halle, gefolgt von seinem treuen Berater Ceolred, auf dessen Stirn sich tiefe Falten zeigten.

~

Ceidric stand vor einer polierten Silberscheibe und sah sich nachdenklich an. Seine Züge waren eine Spur zu herb, um ausschließlich gefällig zu wirken. Er war auch nicht hübsch im eigentlichen Sinn, aber sein raues, immer etwas ungeschliffen wirkendes Gesicht strahlte eine eigene Art von Attraktivität aus. Mit seinen einunddreißig Jahren galt er als Mann im besten Alter. Er hatte wiederholt bewiesen, dass er ein fähiger Führer war, er befehligte die größte zusammenhängende Truppe der gesamten Insel, die Überfälle der Seekrieger aus dem Norden fanden in den Küstenabschnitten, die Ceidrics Soldaten bewachten, praktisch nicht mehr statt. Im Bernica Shire gab es weniger Verbrechen als anderswo, die Erträge der Bauern und Freisassen waren gut und solide, zudem siedelten sich mehr Menschen in diesem Distrikt an als wegzogen.

Wenn man Ceidric das erste Mal sah, fiel einem sofort die deutlich sichtbare Narbe auf, die sich senkrecht von der rechten Augenbraue bis auf die Wange zog: Ein bleibendes Andenken an ein direktes Zusammentreffen eines angelsächsischen Kurzschwertes mit einer langstieligen Axt der Nordmannen. Sowohl der Nordmann als auch die Mitstreiter Ceidrics hatten den Sheriff schon für tot gehalten, nachdem die schwere Waffe tief in dessen Gesichtshaut eingedrungen war. Ein Strom von Blut färbte den Sand unter Ceidrics Kopf schwarz, schneller, als man es für möglich hielt. Er konnte kaum noch etwas sehen, lag auf dem Rücken, Wange und Schläfe schrien vor Schmerz, doch er hielt das kurze Sachsenschwert mit schier übermenschlicher Kraft gegen den Druck von Axt und Krieger – mit der flachen Seite der Klinge gegen den Stiel der Nordmannenwaffe. Dann – unglaublicherweise – begann er, der schon geschlagen schien, beide, den Mann und die Waffe, Stück für Stück von sich weg zu drücken, zunächst kaum wahrnehmbar, dann mit steigender Kraft und Wut, um sich endlich mit einem Schrei aufzurichten. Der Nordmann stolperte entsetzt nach hinten, fiel, rappelte sich wieder hoch, wollte fliehen, zum Wasser hetzen, doch das kurze, tödlich schnelle Sachsenschwert traf seinen Nacken und beendete seinen Weg auf dieser Welt.

 

Ceidric jedoch schien in eine Raserei zu verfallen: Über und über in seinem eigenen Blut gebadet, zwei klaffende, senkrechte Wunden über und unter dem rechten Auge, beinahe geblendet von dem eigenen Lebenssaft, stellte er Nordmann für Nordmann auf dem Strand und erschlug noch vierzehn Feinde, bevor er schließlich zusammenbrach. Manche seiner Reiter sagten später, ihr Herr sei durch den Schmerz von Sinnen gewesen, andere meinten, der Blutverlust habe ihn gegen Schmerzen unempfindlich gemacht. Wenn Ceidric an jenen Tag dachte, erinnerte er sich an die irrsinnige Angst, die er empfunden hatte: Die Angst, zu früh gehen zu müssen. Er war sich noch nie so sicher gewesen, dass seine Zeit keinesfalls gekommen war, sondern dass es noch etwas zu tun gab. Nur deshalb hatte er wie ein Berserker gekämpft: Es gab eine Aufgabe für ihn, in diesem Leben, die auf ihn wartete. Als er dort in jenen Tagen im feuchten Sand gelegen hatte, mehr tot als lebendig, waren ihm das erste Mal in seinem Leben die Bilder gekommen, die wie Erinnerungen wirkten.

 

Er stand mit den Kriegern auf dem Hügel. Er sah sich um: Alle waren mit blauer und weißer Farbe bemalt. Sie schwangen ihre Waffen und schrien wie von Sinnen. Aus dem Tal näherte sich der Trupp ihrer Feinde, gut doppelt so stark wie sie selbst. Aber es ging um die Ehre, an Flucht war nicht zu denken. Vielleicht würden nur die beiden Häuptlinge gegeneinander kämpfen, würden vielen anderen Tod und Schmerz ersparen, doch so, wie es jetzt aussah, waren Verhandlungen unwahrscheinlich. Eine Sippe würde die andere auslöschen, wie es schon so oft geschehen war in diesem unwirtlichen, harten Land. Da stand er nun, der Junge, kaum stark genug, Schwert und Schild gleichzeitig zu tragen, und erwachsene, kräftige Männer marschierten auf ihn zu, bereit, ihn zu töten. Er schrie ebenfalls: Die Angst gab ihm Kraft und ließ seine Stimme dunkler klingen, als sie in Wirklichkeit war. Und er war wütend über diese Angst – er wäre gern einer von denen gewesen, die sich nicht fürchteten.

 

Entsetzt war er aufgewacht – gerade noch rechtzeitig: Die fliehenden Nordmannen wollten ihm eben den Garaus machen, doch dem ersten Hieb wich er aus, bei dem Nächsten war er bereits wieder auf den Beinen und dann umringten ihn seine Reiter und schützten ihn vor weiteren Attacken. Nach der Schlacht hatte sich die Wunde entzündet und dadurch war ihm diese Narbe geblieben. Sie entstellte ihn nicht etwa, sondern gab ihm die Aura der Verwegenheit, die vor allem das weibliche Geschlecht spürbar beeindruckte. War er in der Vergangenheit bestenfalls geachtet gewesen, so wirkte er seit diesem Tag am Strand von Bernica beeindruckend. Im Gegensatz zum jungen Earldorman von Sancton und anderen Kriegern achtete er auf sein Äußeres, zum Beispiel entfernte er nach römischer Sitte täglich seine Gesichtsbehaarung und er badete oft und gern. Auch seine Kleidung war ihm wichtig, es war ihm zuwider, in beschädigter, verdreckter oder auch nur in unangemessener Gewandung aufzutreten. So hätte Ceidric auf jeden Betrachter durchweg zivilisiert und gebildet gewirkt, wären da nicht seine wallende braune Mähne und die durchdringenden grünen Augen gewesen, die ihm in Verbindung mit der Narbe eine eher ungezähmte Note verliehen.

Dies mochte auch ein Grund dafür sein, dass er fortan mit Leichtigkeit sowohl die Betten der Ladys eroberte als auch die freiwillige Hingabe der meisten Sklavinnen errang. Vielleicht war sein andauernder Erfolg beim weiblichen Geschlecht dafür ausschlaggebend gewesen, dass er immer noch nicht geheiratet hatte. Überraschend kam ihm auch dieser Aspekt des Angebotes seines Hochkönigs ins Bewusstsein. Sein alter Berater schien sich über den gleichen Umstand Gedanken zu machen.

„Wenn Ihr auf dieses Angebot eingeht, Herr, dann wird die Zahl Eurer Eroberungen deutlich sinken…“

Ceidric machte ein unwilliges Geräusch.

„Wie sieht sie eigentlich aus, die Tochter des Königs?“

„Nun, Lady Ellwydd soll dem Vernehmen nach eine recht ansehnliche junge Frau sein, noch nicht ganz ausgewachsen, aber ihr derzeitiges Äußeres lässt hoffen.“

Ceolreds Stimme klang belustigt. Da berieten sie sich seit Stunden darüber, welche Falle ihnen Cumbrae im Begriff war zu stellen und nun dies.

„Was heißt: lässt hoffen? Und woher willst Du das wissen?“

 

Ceidric ging unruhig im Zimmer auf und ab. Ein Aspekt schob sich mit immer unangenehmerer Klarheit in seine Gedanken: Er dachte an Lady Ellyn, die sich nun wohl in ihrem Gästequartier aufhielt und nicht gerade vorteilhaft gestimmt war. Und er dachte an den Körper dieser Frau, der ihm in den vergangenen Monaten so oft Freude gespendet hatte. Er seufzte, doch bevor er etwas sagen konnte, kam ihm Ceolred zuvor.

„Nun, Ihr junger Tor, wenn Ihr erst König seid, könnt Ihr Lady Ellyn ohne Gefahr an den Hof holen und jede zweite Nacht ihr Lager teilen. Und wenn Ihr erst Euren Thronfolger gezeugt habt, dann werdet Ihr Euch jede Nacht mit ihr ergötzen, und niemanden würde es stören, am allerwenigsten die Königin, die sogar froh sein wird, wenn Ihr sie dann in Ruhe lasst.“

Ceolred betrachtete die Angelegenheit praktisch: Jedermann wusste, dass die allgemeinen Sitten um so weniger beachtet wurden, je höher der Stand war. Ceidric dagegen kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf.

„Nein, mein alter Freund, das wäre nicht Recht. Wenn ich heirate, dann will ich es ernst meinen, und wenn ich König bin, dann wäre ich sicher ein Vorbild für mein gesamtes Volk. Wie könnte ich in den Spiegel schauen, wenn ich mir eine Mätresse hielte, und dies sogar an meinem eigenen Hof?“

 

Wieder trat er an die Silberscheibe und musterte sich eingehend. Er musste an seinen Vater denken. Der hatte ihm oft gesagt, dass es einige Könige unter seinen Vorfahren gegeben hatte. Als Bernica noch ein unabhängiges Reich gewesen war, hatte sein eigener Großvater das Land viele Jahre lang weise regiert. Und über seinen Vater wussten viele zu berichten, dass er sich den oft ausschweifenden Vergnügungen bei Hofe fern gehalten hatte – eine Geliebte hatte er sich ebenfalls nie zugelegt. Nach allem, was man hörte, war er Ceidrics Mutter treu gewesen. Noch heute sprachen die Grundbesitzer – die Thanes – und auch die Pächter in Bernica voller Achtung von Ethelred, der nicht nur Ceidrics Vater, sondern auch ein geachteter Edelmann gewesen war und manch einer bedauerte seinen frühen Tod. Er war von einem anderen Schlag gewesen als beispielsweise Cumbrae, der amtierende Hochkönig. Ceidric wusste, dass viele Adlige und Grundbesitzer in Bernica lieber seinen Vater auf dem Thron von Northumbria gesehen hätten, doch er war sich nicht sicher, ob sie ihn ebenfalls unterstützen würden. Er sprach seine Gedanken laut aus.

 

„Bin ich überhaupt ein König? Und wenn ja, wäre ich ein guter König?“

Ceolred wurde ebenfalls wieder ernst.

„Wer, wenn nicht Ihr, Mylord?“

Er räusperte sich und lachte kurz und trocken auf. Er war froh darüber, der Berater des Sheriffs zu sein.

„Die Menschen brauchen wieder Vertrauen, Mylord. Nach den Jahrzehnten der Willkürherrschaft, nach dem Bürgerkrieg und nun den Überfällen der Nordmannen sind die meisten zornig und haben Angst. Sie brauchen einen Führer, der stark und gerecht ist…“

Ceidric unterbrach den alten Mann.

„Gut, gut, Master Ceolred. Aber mein Lebenswandel? Er ist alles andere als respektabel, seht her, ich bin nun fast zweiunddreißig Jahre alt, nicht verheiratet, geschweige denn, dass ich bereits Nachkommen gezeugt hätte. Bin ich vertrauenswürdig?“

Wieder lächelte Ceolred nachsichtig.

„Herr. Bisher habt Ihr den Küstenschutz aufgebaut, habt viele verwegene Schlachten geschlagen, seid Euren Männern und Hauptleuten nah gewesen und habt dieses Land gesichert. Wer wollte von Euch ernsthaft fordern, dass Ihr zeitgleich eine Ehe und Familie begründet?“

„Aber mein Ruf ist der eines…“

Der alte Berater schnitt ihm das Wort mit einem kurzen Handzeichen ab.

„Unsinn. Euer Ruf kann sich hören lassen, in allen edlen Hallen Northumbrias. Ihr habt Euch nicht mit Huren herumgetrieben, Eure Gespielinnen stammten durchweg aus guten Häusern, bis jetzt jedenfalls. Also mögen vielleicht einige Neider oder die Kirchenmänner etwas Bedenkliches an Eurem bisherigen Lebenswandel finden, aber niemand wird dem zustimmen, der klar bei Verstand ist.“

Ceidric wog den Kopf hin und her.

„Ich weiß nicht…“

„Ich weiß es aber, Herr. Ich weiß es von den Göttern höchstpersönlich…“

Der Sheriff horchte auf. Seit dem Tag am Strand von Bernica, an dem er beinahe unter einer Nordmannen-Axt gestorben wäre – zu früh, wie er sich sicher war – seit diesem Tag suchte er nach dem, was seine Bestimmung sein könnte. Und sein alter Berater verfügte über altes Wissen, geeignet, diese Suche zu erleichtern. So nickte Ceidric dem alten Mann aufmunternd zu.

„Die Götter? Erzähl mir davon, Ceolred. Was haben sie mit mir vor?“

Der Angesprochene seufzte tief, dann lachte er leise.

„Mylord, nicht jetzt. Bitte…“

Ceidric schüttelte unwillig den Kopf.

„Doch. Ihr habt davon angefangen, Master. Ihr allein. Ihr wisst, ich bin getaufter Christ, doch die Priester des Einen Gottes können mir keine Antworten geben. Ihr dagegen seid ein Anhänger der Alten Mächte, also offenbart mir, war Ihr wisst oder zu wissen glaubt.“

Wieder versuchte der alte Berater, das Ansinnen seines Herrn abzuwiegeln.

„Es geht nicht so. Es ist… schwierig.“

Die grünen Augen des Sheriffs verengten sich.

„Nichts in diesem Leben ist einfach, alter Mann. Was braucht Ihr dazu?“

 

Ceolred nickte kurz in die Richtung, aus der die Musik drang. Unbeschwertes Gelächter hallte durch die Mauern. Selbst die Teile der Burg, die noch überwiegend aus Holz gebaut waren, konnten das Lärmen von Sygebryhts Gefolge kaum abschirmen. Die Orgie schien in vollem Gange zu sein. Der alte Berater lächelte bedauernd.

„Zeit, Herr. Vor allem brauche ich Zeit. Und die haben wir nicht. Die da unten warten auf…“

Ceidric schnitt ihm das Wort ab.

„Wir haben alle Zeit der Welt, verdammt. Du hast es gehört: Drei Tage. Wir haben drei Tage und zwei Nächte. Was also braucht Ihr?“

„Nun, eine Schale voll glühender Kohle und einige Kräuter aus meinem Turmzimmer.“

Der Sheriff klatschte in die Hände und eine Wache erschien. Er gab äußerst kurze Anweisungen, das Gewünschte zu holen. Der Mann nickte nur und verschwand. Ceolred räusperte sich. Ceidric drehte sich um.

„Ja?“

„Herr. Ruhe. Ruhe brauche ich am nötigsten. Auch vor Euch. Wollt Ihr Euren Gästen nicht ein wenig Gesellschaft leisten? Nur wenige Stunden. Dann kann ich mich auf die Vorbereitungen konzentrieren und es kommt etwas Sinnvolles heraus. Wenn Ihr die ganze Zeit neben mir steht, wird das nichts. Verzeiht, aber…“

Der Sheriff winkte ab.

„Ist schon gut. Ja, ich bin ungeduldig. Wenn es Euch behindert, gehe ich. Doch ich werde bald wieder bei Euch sein, Master. Nutzt die Zeit und die Ruhe…“

 

Seine Stimme verging zu einem Knurren. Mit schnellen Schritten verließ er das Zimmer. Der alte Berater aber nickte und sah sich in dem karg möblierten Raum um. Er zog einen Wandbehang aus der Aufhängung, legte ihn sorgsam vor sich auf den Boden und schob den Tisch und die beiden Stühle an die Wand. Dann war die Wache zurück und brachte das Gewünschte: Ein Kohlebecken und einige Tontiegel voller getrockneter Pflanzen. Ceolred wartete, bis er wieder allein war, dann schloss er die Tür, kniete sich auf den Boden, öffnete einen Tontiegel, griff mit drei Fingern hinein und zerrieb einige Kräuter über der Glut. Rauch wallte empor, verteilte sich Raum und waberte zu der Fensteröffnung. Der alte Berater schloss die Augen. Seiner Kehle entfuhr ein Raunen, zunächst nur ein Geräusch, das aber bald in einen dunklen, sonoren Singsang überging. Wieder fuhren die Finger in einen der Tontiegel, mehr Rauch entstand und bald war der ganze Raum in einen grüngrauen Nebel gehüllt.

 

Ceolreds Umrisse waren kaum zu erkennen, doch kniend wiegte sich sein Oberkörper bedächtig von rechts nach links, zu einer pulsierenden Melodie, die ihren Ursprung tief im Inneren des alten Beraters hatte. Er atmete tief und langsam. Wiegte sich hin und her. Gab sich hin. Um die Verbindung herzustellen, so wie er es vor langer, langer Zeit gelernt hatte. Dieses Mal gab es andere Bilder, es war, als ob ein lückenhaftes Mosaik deutlich mehr Elemente enthielt: Die Königstochter! Sie passte. Das war eindeutig. Sie bereicherte das Schicksal seines Herrn! Dann die Andere – auch sie, sie war mehr! Ceidric würde sie treffen, seine Bestimmung erfüllen. Die Königstochter, zwei Freunde. Ein Feind. Aber nein: Auch ein Freund. Doch nicht gleich erkennbar als solcher. Und wieder die Andere – wichtig, wichtig. Also, drei Frauen. Nein: Vier! Vier Frauen – vier Männer. Acht.

 

Er sann nur kurz darüber nach, einen Augenblick holte ihn sein Verstand aus dieser Verbindung heraus: Acht! Acht Seelen, die sich hier, jetzt, in diesem Leben stellen, einander stellen um eine alte Schuld zu begleichen… Halt – verbesserte er sich – es gibt keine Schuld, sie stellen sich, um es anders zu machen, bei gleichen Verstrickungen. Er atmete schwer, fast keuchend. Die Luft um ihn herum war mit schweren Düften und Rauch gesättigt, es war ihm kaum noch möglich, genügend Sauerstoff in seine Lungen zu bringen. Aber er war in Trance, in Verbindung. Somit bemerkte er – also sein „Ich“ – nicht, dass sein Körper zu sterben begann. Er war in Verbindung und sah.

Sah vier männliche Menschen, die mit vier weiblichen Menschen in eine Inkarnation kommen mussten, um das Band, was zwischen ihnen bestand, lösen zu können. Komplizierte Bande… vertrackt. Ceolred hustete und lächelte und sackte vornüber. Dann wurde sein Körper reglos. Sein Geist aber befand sich in einer wundervollen, wilden und sonnigen Welt. Las alles, was über diese acht Seelen geschrieben stand. Er juchzte vor Lust: Was für eine Wonne! Schicksale zum Nachlesen, lange bevor sie gelebt waren, die Lösungen wurden vor der Aufgabe offenbart! Hurra – schrie es in ihm – weiter, und: Ich will mehr, mehr, noch viele andere… er bewegte sich seitwärts, fand weitere Schicksale, hustete sich beinahe das Leben aus dem Leib, aber es war so spannend, so hilfreich, es würde so vielen das Leben erleichtern, also las er weiter, bewegte sich tiefer in die Verbindung, bis er an eine Wand stieß, kalt, klamm, nass, grau…?

Moment? – dachte sein Geist – Wand? Nein. Nass – Ja. Schmerz? – Ja.

 

Irritiert sah er sich um: Es gab nichts mehr. Das Mosaik: Ausgelöscht. Sein Geist: Ungebetener Gast. Weg hier. Raus. Und wieder: Wasser. Es tat ihm weh. Er wischte sich über das Gesicht, doch es hörte nicht auf zu Schmerzen. Er hustete. Er spürte, dass er sich erbrach, auch das tat weh. Und in den Ohren: Welch ein Geschrei! So wütend! So barbarisch, doch: Oh, das kenne ich – das ist mein Kind, das ist Ceidric! Der schreit. Oh, mein Junge, schrei nicht so laut, Du weckst noch jemanden auf! Sei nicht wütend, ich kenne nun Dein Schicksal. Ich lächele…

Ein starker Schlag. Er schmerzt mehr als alles andere. Jetzt wurde aber nicht der Geist getroffen, nein, es war die Wange. Ist ein Knochen gebrochen? Wer würgt mich? Wer drückt mich so absonderlich forsch? Alles tut mir plötzlich weh, oh, und dann dringt grelles Licht in meine Augen – Hölle – das schmerzt, und stinkt, es ist kalt, ich bin nass, mir ist übel, in den Augen sticht es, zu allem Überfluss explodiert mein Trommelfell von grausamen Geräuschen…

 

„Ceolred! Komm endlich wieder zu Dir, verdammt!“

Ceidrics Stimme war ein dröhnender, hallender Bass. Wie von Sinnen schüttelte er den alten Mann, er bemerkte nicht, dass dessen Augen bereits offen waren und irritiert umher starrten. Wieder schlug er mit aller Gewalt auf den Brustkorb seines Beraters. Endlich leitete ein stoßartiges Ausatmen einen schweren Hustenanfall ein, gleichzeitig übergab sich Ceolred erneut auf den kalten Steinboden. Ceidric ließ sich zurückfallen und wandte sich angewidert ab.

„Mein Gott, wenn Ihr mir vorher gesagt hättet, dass Ihr Euch vergiften wollt, hätte ich nicht darauf bestanden…“

Ein keuchendes Husten war die Antwort. Der Sheriff richtete sich auf und sah seinem alten Berater in die Augen.

„Verdammt, Ihr Narr!“

Wut schwang in seiner Stimme mit, aber auch unendliche Erleichterung. Seit dem Tod seines Vaters hatte ihn Ceolred beraten und geführt – ein Leben ohne ihn konnte sich Ceidric nicht vorstellen. Die Stimme war schwach und rau.

„Herr… es… ist alles… gut.“

Wieder folgte ein Hustenanfall. Ceidric richtete den alten Mann auf und dieser stöhnte.

„Musstet Ihr mich… denn so… schlagen?“

Ceidric nickte heftig. Dann traten ihm Tränen in die Augen und er umarmte seinen Berater und Freund.

„Ja verdammt… für Eure Dummheit…“

Der alte Mann grinste und hustete erneut.

„Geschieht mir Recht … da gehe ich in die … Anderwelt… nur Euretwegen… da hab ich… Schläge verdient…nicht wahr?“

Der Sheriff erhob sich ruckartig.

„Fordert mich nicht heraus, Master, ich bitte Euch.“

Er wandte sich zur Wand um. Seine Stimme klang tonlos.

„Hat es sich wenigstens gelohnt?“

Ein leises Lachen war die Antwort.

„Gebt mir… ein klein wenig… Zeit. Zeit, zu mir zu kommen, Herr. Es war… äußerst lohnend.“

Ceidric antwortete mit einem undefinierbaren Grunzen. Doch er drehte sich um und lächelte beinahe. Dann nickte er und deutete auf die Stühle.

„Könnt Ihr sitzen, Master Ceolred?“

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„Seht, es ist ganz einfach: Dieses Leben ist bestimmt von einem Treffen. Außer Euch sind noch sieben weitere Seelen im Spiel: drei weitere Männer und vier Frauen.“

„Vier Frauen? Ist das nicht ein bisschen viel auf einmal?“

Ceolred schüttelte den Kopf.

„Damit ist nicht gemeint, dass Ihr mit jeder von ihnen in Liebe verbunden sein müsst, Herr. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen.“

Der alte Berater hatte sich erstaunlich schnell erholt. Er grinste bereits wieder über beide Ohren und seine Stimme hatte den vertrauten, bisweilen etwas überheblich wirkenden Klang.

„Es handelt sich um eine uralte Verstrickung, und Lady Ellwydd – oder besser ihre Seele – scheint eine sehr wichtige Rolle darin zu spielen: Mit ihr hat sich das Bild vervollständigt.“

Ceidric machte eine ungeduldige Geste.

„Ja?“

Ceolred nickte nachsichtig.

„Nun, sie und Ihr… das scheint etwas Festes zu sein. Zu werden. Oder gewesen zu sein.“

Ceidric atmete geräuschvoll ein.

„Geht es etwas… eindeutiger?“

Ceolred schüttelte den Kopf.

„Leider nein, Herr. Da drüben… also, wenn ich in Verbindung bin, dann ist alles sehr, sehr klar. Wenn es möglich wäre, mit Euch zu reden, während ich drüben bin, dann könnte ich es sehr konkret ausdrücken. Auf dem Weg zurück geht leider vieles verloren… es bleibt ein mehr oder weniger deutliches Gefühl. Leider keine Fakten.“

Der Sheriff zuckte die Schultern.

„Und das nennt Ihr äußerst lohnend“?“

Der alte Berater nickte überzeugt.

„Aber ja! Wir wissen jetzt, dass Lady Ellwydd einen starken, schicksalhaften Bezug zu Euch hat. Also reitet nach Lindisfarne und werbt um sie. Macht sie zu Eurer Frau. Was Cumbrae auch immer für verworrene Pläne hat, Ihr werdet sie durchkreuzen!“

„Und die anderen Sechs? Wer sind die?“

Ceolred überlegte kurz.

„Möglich, dass Ihr sie bereits kennt. Oder Ihr lernt sie in Kürze kennen. Es sind einfach weitere Schicksalsgefährten, die Euren Weg von nun an teilen werden. Am Ende müssen sich alle Acht finden, müssen sich an ein und demselben Ort treffen und dort etwas abschließen. Wie eine Erfüllung, in etwa. Ach, ich denke, Ihr werdet sie erkennen, wenn Ihr sie seht. Achtet auf Eure Gefühle: Wenn Euch jemand berührt, obwohl er Euch eigentlich unsympathisch sein müsste, zum Beispiel…“

Aus dem unteren Bereich der Burg drang das Kreischen einer Frau herauf. Ceidric deutete in die entsprechende Richtung.

„Ist er einer von ihnen? Sygebryht, meine ich?“

Der alte Berater schloss die Augen und atmete tief ein. Dann sah er Ceidric an.

„Nicht ausgeschlossen. Fühlt in Euch hinein, Mylord. Was sagt Euer Herz, wenn Ihr an den jungen Earldorman aus Sancton denkt?“

Ceidric dachte kurz nach.

 

„Widerwillen einerseits: Er gehört zu der Klasse an Höflingen, die ich nicht mag. Aber bei ihm ist es anders. Mir wäre es lieb, wenn wir Freunde wären.“

Ein Schulterzucken war die Antwort.

„Eben. Es würde mich nicht wundern, wenn er dazu gehört. Nun ist der Erste aufgetaucht, Ellwydd ist die zweite: Jetzt wird es schnell gehen. Achtet einfach auf alle Menschen, die in nächster Zukunft Euren Weg kreuzen werden.“

 

Ceidric sah den alten Mann lange an. Dann erhob er sich. Bevor er den Raum verließ, drehte er sich noch einmal um.

„Ich werde Ellwydd besuchen, gut. Aber eines muss ich noch wissen: Was soll bei diesem Treffen der Acht erlöst werden? Worum geht es dabei?“

Wieder machte Ceolred eine unbeholfene Geste.

„Wer weiß? Wie gesagt: Es geht viel verloren. Gefühlt seid Ihr alle aneinander schuldig geworden. Vielleicht will diese Schuld in diesem Leben getilgt werden? Vielleicht habt Ihr einst Lady Ellwydd verschmäht oder sie gegen ihren Willen genommen? Oder… die Andere?“

„Die Andere?“

Der alte Berater lächelte entschuldigend.

„Herr, es tut mir leid. Die Andere war sehr präsent in meiner Vision. Ich kann es auch nicht deuten. Es scheint mir aber, dass es noch eine weitere Frau gibt, die Anspruch auf Euch erhebt oder erhoben hat. Sie scheint mit Lady Ellwydd in Konkurrenz zu stehen. Und sie wird bald in Euer Leben treten. Oder sie ist bereits da.“

Ceidric sah aus der Fensteröffnung hinüber in den Bereich der Burg, in der Lady Ellyn wohnte. Er trat einen Schritt vor und beugte sich aus der Öffnung in der Mauer. In dem Zimmer seiner Gespielin brannte ein kleines Licht.

„Meint Ihr Ellyn? Könnte sie es sein?“

Ceolred zuckte erneut die Schultern.

„Ich weiß es nicht. Es ist möglich. Vielleicht sogar wahrscheinlich. Wie ist Euer Gefühl?“

Ceidric grinste kurz.

„Ihr wisst, dass ich diesem Weib nicht widerstehen kann, Master! Sie riecht so gut…“

Der alte Berater lachte laut auf.

„Wer weiß, vielleicht ist das ja ein schicksalhaftes Erkennungsmerkmal. Lasst sie einfach nicht aus den Augen. Und beeilt Euch, mit Lady Ellwydd Kontakt aufzunehmen, Herr. Das ist dringend geboten.“

„Keine Bedenken wegen Cumbrae?“

Ceolred schüttelte den Kopf.

„Nein, Herr. Keine Bedenken. Abgesehen von dem Bluteid.“

 

Ceidric nickte ernst. Der Bluteid war die ultimative Unterwerfung eines Vasallen unter seinen Herrn, eine Art ewiger Verzicht auf die Anwendung von Gewalt gegen ihn und die Zusage jeder möglichen Unterstützung. Er war lebenswichtig etwa für den Erstgeborenen eines Hauses: Wenn seine jüngeren Brüder ihm gegenüber den Bluteid ablegten war er geschützt und brauchte fortan keine Angst mehr vor den Intrigen seiner eigenen Verwandten zu haben. Denn wer einen Bluteid brach, wurde automatisch aus der Gesellschaft ausgestoßen, verlor Besitz, Stand, Familie und galt fortan als vogelfrei, was nichts anderes bedeutete als dass ihm niemand Unterkunft gewähren oder Nahrung geben durfte. Wer wollte, konnte ihn töten, ohne eine Strafe befürchten zu müssen. Die christlichen Priester hatten die Liste der Folgen eines Eidbruches noch um den Umstand ergänzt, dass der Eidbrüchige bis zum jüngsten Tag in der Hölle schmoren würde.

Ein Bluteid galt aber als nichtig, wenn eine Gegenleistung, die mit dem Schwur zusammenhing, zurückgehalten wurde oder der Empfänger des Eides den Schwörenden öffentlich davon entband. Den ersten Punkt führte Ceidric in seiner Argumentation an.

„Keine kleine Bitte, da hast Du recht. Aber es ist ja auch kein kleines Königreich, welches ich im Gegenzug bekomme.“

 

Ceolred schüttelte den Kopf.

„Das Königreich müsst Ihr erst einmal erben, Herr. Wer weiß, was dem alten Fuchs bis dahin noch alles einfällt.“

„Was soll ihm denn einfallen? Wenn er mich nicht an Sohnes statt annimmt, bin ich nicht an den Eid gebunden und er muss mich wieder fürchten. Gibt er mir seine Tochter nicht, ist es genauso. Und ich denke, er will einfach meine Truppen hinter sich wissen, falls es mit seinem gierigen Bruder Oslac Ärger gibt. Das sind doch gute Voraussetzungen dafür, dass es sich um gar keine Falle handelt, sondern um die Art Diplomatie, die wir von Cumbrae kennen.“

 

Ihr Gespräch setzte sich fort. Doch neben allen rationalen Erwägungen hatte sich festgesetzt, dass die Königstochter offenbar eine Schicksalsgefährtin von Ceidric war. Und so kamen beide wieder und wieder zu demselben Schluss: Welche Falle sich auch immer dahinter verbergen sollte, er durfte Cumbraes Angebot nicht ablehnen. Als der Morgen endlich graute, trennten sich Ceolred und Ceidric und gingen zu Bett. Beide verschliefen den halben Tag. Die Boten des Königs hatten ihre Feier in der Halle mit den Tänzerinnen ebenfalls bis weit in die Morgenstunden ausgedehnt und schliefen noch länger.

Ceidric nutzte die gewährte Bedenkzeit von drei Tagen wohlweislich aus – eine allzu schnelle Antwort hätte nur gezeigt, wie sehr er darauf erpicht war, an die Macht zu kommen. Die Reiter des Hochkönigs genossen derweil die beiden weiteren Nächte auf der Burg: Sie tranken, aßen, tranken noch mehr und vergnügten sich mit den Sklavinnen des Sheriffs. Am Nachmittag des 15. Juli 810 ließ Ceidric seine Antwort in Anwesenheit der reichlich verkaterten, aber gut gelaunten Ritter des Königs aufsetzen, noch am selben Abend machten sich Sygebryht von Sancton und seine Begleiter auf den Weg zurück nach Deira Castle, wo der Hochkönig von Northumbria gespannt der Antwort des Sheriffs von Bernica entgegensah.

 

Ceolred und Ceidric standen auf dem höchsten Turm von Bernica Castle und sahen der sich entfernenden Staubwolke lange hinterher. Kaum waren die Reiter über die letzte Hügelkette verschwunden, klatschte Ceidric in die Hände.

„Und nun, mein alter Freund, lass uns für die Reise rüsten!“

Ceolred hob eine Augenbraue.

„Welche Reise, Mylord?“

Ceidric grinste und erinnerte den alten Berater spontan an den neunjährigen Wirbelwind, der sein Herr gewesen war, als er ihn kennengelernt hatte.

„Nun, ich möchte meine Braut kennenlernen. Und Lindisfarne ist gerade mal fünf Tagesritte von hier entfernt. Übermorgen können wir aufbrechen, wenn Ihr Euch nun endlich beeilt!“

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© Ron Burloff